Chronische Glücksmomente

 

06.03.2024

Als mir meine Ärztin auf der Neurologie-Station Bremen Ost vor knapp 10 Jahren  mitteilte, dass ich ab jetzt mit der Diagnose "Multiple Sklerose" leben müsse, begriff ich noch nicht mal annähernd was dies bezogen auf meinen zukünftigen Lebensstil bedeuten würde. Was ich jedoch schnell Begriff ist, dass mir recht viele Menschen anscheinend ständig mitteilen müssen, dass sie jemanden im Bekanntenkreis mit einer MS-Diagnose haben oder jemanden kennen der:die schon lange im Rollstuhl sitze oder auf Gehhilfen angewiesen sei. Andernfalls wird mir gerne häufig gesagt, dass man mir das ja alles gar nicht ansehe und man damit gar nicht gerechnet hätte bei einem so jungen Menschen. Mein Lieblingskommentar "Mensch dafür siehst du aber ganz schön gut/fit aus"

Ich möchte betonen ich freue mich jeden Tag aufs Neue, dass es mir grundsätzlich körperlich gut geht. Abhängig von äußeren Umständen welche von Wetterumschwung bis hin zu Stress auf der Arbeit reichen, habe ich gute - mittelmäßige und auch mal schlechtere Tage. Doch gerade aufgrund dessen, dass man mir nicht ansieht welche Auswirkungen meine Erkrankung mit sich bringt, ist es oft schwer mich und meine Bedürfnisse zu äußern ohne ständig mitzuteilen, dass ich aufgrund der MS manchmal einfach zu kaputt bin Dinge zu tun (Das Symptom wird als Fatigue bezeichnet) oder mein Körper leider mindestens doppelt so viel Zeit benötigt um sich von Anstrengungen zu erholen. Selbst zu warme Tage werden schnell zu einem Kraftkiller im sommerlichen Alltag. 

Es ist ein ziemliches Dilemma für mich, denn auf der einen Seite möchte ich dass wir als Gesellschaft mehr in den gemeinsamen Austausch gehen, uns gegenseitig aufklären, offen über Probleme reden und toleranter gegenüber Menschen mit Behinderung werden. Andererseits fällt es mir extrem schwer mich im Rahmen meiner Gesundheit offen mitzuteilen. Ich möchte nicht den Stempel des Erkrankten bekommen, ich möchte kein Mitleid erregen ich möchte weiterhin als Freund, Partner, Kollege, Bruder, etc. wahrgenommen werden ohne dass ich mich für mich und mein Handeln rechtfertigen muss. Ich möchte nicht jedes mal erwähnen dass ich kaputt bin, dass es mir nicht gut geht, dass ich einfach keine Kraft habe aufgrund meiner MS. Möglicherweise hat sich mein Bild aufgrund dieser entwickelten Unsicherheit gegenüber meinen Mitmenschen auch verändert und ich bilde mir ein, dass andere über mich reden oder mir Dinge vorwerfen wenn ich mal wieder absage, früher ins Bett gehe, nicht mit an den See fahre oder einfach mehr Ruhe zu Hause brauche. 

Warum jetzt aber "Chronische Glücksmomente"? 

Wie zu Beginn erwähnt freue ich mich jeden Tag darüber dass es mir gut geht, ich so gut wie alles im Alltag "normal" erledigen kann und ich nicht wie leider viele andere Menschen auch im jungen Alter mit einer schubförmigen Multiple Sklerose auf eine Gehhilfe oder sogar auf den Rollstuhl angewiesen bin. Ich habe mit jetzt 30 Jahren nochmal Snowboard fahren gelernt und ich muss sagen ich liebe es! Ja es ist schmerzhaft wenn man fällt und ich bin viel gefallen. Als es dann aber halbwegs funktioniert hat, ich auf dem Board stand, die Sonne schien und alles weiß voller Schnee war wusste ich, dass sich jeder Sturz, jeder blaue Fleck und der Kampf gegen den inneren Schweinehund zu 100% gelohnt haben. Ich liebe alles daran und werde hoffentlich noch genug Möglichkeiten finden zu fahren. Dank toller Unterstützung und aufmunternden Worten habe ich es endlich mal wieder geschafft an meine körperlichen Grenzen zu gehen und werde jetzt meine körperliche Regenerationsphase beginnen und freue mich schon auf das nächste mal! 

Es ist extrem wichtig für mich mir diese Glücksmomente zu schaffen und mir jedes mal aufs neue zu beweisen dass der Körper noch gut "funktioniert" und ich meine Grenzen ausreizen kann. Auch wenn es danach bedeutet erstmal eine kleine Pause zu machen habe ich einen guten Weg gefunden damit umzugehen. 

 

 

 

 

 

 

Toxische Männlichkeit

 

Lange habe ich überlegt meine Gedanken öffentlich zu machen. Hierdurch bin ich angreifbar und lasse andere Menschen darüber urteilen wie ich denke und fühle. Ich bin mir dessen bewusst und weiß, dass es ein Prozess ist, der in mir stattfindet und nicht allzu oft auf positives Feedback stößt. Es ist jedoch auch nicht mein Ziel dieses zu generieren.

 

Ein Gefühlsbild:

 

Zu Beginn zu mir, ich bin 29 Jahre alt, männlich gelesen und ein weißer studierter privilegierter Mensch.

Ich habe in den letzten Jahren eine für mich sehr spannende, positive und gleichzeitige anstrengende Entwicklung durchlebt in der sich mein Blick, durch Gespräche mit Betroffenen Personen, Selbsterfahrungen und geschilderten Ereignissen, auf patriarchalisch geprägte Gesellschaftsstrukturen stark geändert hat.

Für mich ist es seit einiger Zeit ein ziemlicher Struggle mich mit meinem Geschlecht und den dazugehörigen Privilegien wohlzufühlen.

 

Ich suche bewusst Kontakt zu Menschen welche meiner Comfort Zone entsprechen und weiß, dass ich mich damit von Menschen distanziere welche dieser nicht entsprechen. Hierdurch entsteht sicherlich eine Bubble in der ich einen Austausch mit Menschen finde, welche ähnlich eingestellt sind wie ich. Häufig besteht dieser Austausch mit weiblich gelesenen Personen. Dieser Rückzug in eine Bubble oder auch die Intoleranz gegenüber Menschen, meist männlich gelesene Personen, führt bestimmt zu keinem aussagekräftigem Bild der Gesellschaft, geschweige denn zu einem Austausch mit Menschen die meinem Bild einer gleichberechtigten Gesellschaft entsprechen. Jedoch fehlen mir oft die Ressourcen mich nach 2 Jahren Pandemie und all den dazugehörigen Diskussionen über rechtes Geschwurbel, Impfen Ja/Nein, Verschwörungsmythen und all den anderen Themen welche in der Zeit aufkamen, über meine Gedanken und Gefühle mit Menschen welche diese nicht teilen zu diskutieren.

 

Ich habe das große Glück eine tolle Partnerin und Freund*innen zu haben mit welchen ich intensive Gespräche führen kann, die mich supporten und mich darin bestärken, mich positiv weiterzuentwickeln. Ich weiß es gibt nun kein zurück mehr zu meinem alten unreflektierten und sicherlich auch teilweise toxisch männlichem Leben. Aber das ist auch gut so. Ich liebe es feministische Gedanken in mir zu tragen und mich weitestgehend frei von gesellschaftlichen Kategorisierungen zu entfalten.

Ich kann nur ansatzweise versuchen mich in betroffene Personen hineinzuversetzen und mich selbst mit verschiedenen Themen zu sensibilisieren. Genau hierum geht es. Sich seiner Privilegien bewusst zu sein und diese zu reflektieren. Und diesen Gedanken beziehe ich nicht nur auf patriarchalische Strukturen, sondern auch auf Themen wie Rassismus, Bildung, Ableismus, Antisemitismus…ich könnte zwei Seiten mit weiteren gesellschaftlichen Themen schreiben.

Ein Thema dass mich unglaublich doll stört sind geschlechtliche Zuschreibungen und Erwartungen. Ich möchte mir von Menschen nicht sagen lassen, dass ich als Mann ja so pragmatisch bin und in undurchsichtigen Situationen anders handeln muss als die „emotionale Frau“. Genau so übrigens passiert mit ehemaligen Kolleg*innen bei einem Träger der sich paritätisch auf die Fahne schreibt. Ich will ich sein und reagieren wie es mir gefällt. Ich möchte weinen dürfen, überfordert sein und mich aus Situationen raushalten wo mal ein „richtiger Mann“ benötigt wird. Ich will mir die Nägel lackieren, dünne lange Vogue Zigaretten rauchen und mit blond gefärbten Haaren Abends unterwegs sein, ohne Menschen zu begegnen die mich als „dumme Schwuchtel“ bezeichnen, (was übrigens noch nie cool, witzig oder annähernd intelligent war) und mich angucken als würden sie mir am liebsten mal schön auf die Fresse hauen. Wie es Menschen ergehen muss die dazu noch nicht der "heterosexuellen Norm" entsprechen, kann ich nur wage vermuten.

(Toxische) Männer die glauben sich alles erlauben zu dürfen, Menschen objektifizieren, sexualisieren und sich Ihnen aufdrängen sind leider häufig in der Gesellschaft anzutreffen. Gerade im alkoholisiertem Zustand schwer auszuhalten und für als Frau gelesene Personen Abends der Grund sich öfter mal umzuschauen und unsicher nach Hause zu gehen. Diese scheiß Sozialisierung, den Mädchen im Jugendalter zu sagen bleib Abends nicht so lange weg es ist gefährlich, wenn der gleichaltrige Bruder bis nachts um 03:00 draußen sein darf ist leider schon der Schritt in die falsche Richtung, weil damit etwas signalisiert wird. Nämlich Ungleichberechtigung und eine Geschlechterhierarchie. Ich habe keine Lust mehr mit diesen Männern verglichen zu werden nur weil ich dem Geschlecht angehöre. Ich schäme mich für diese und es macht mich sauer und traurig zugleich, dass sich so wenig ändert.

Ich wünsche mir eine gleichberechtigte freie Gesellschaft in der alle tun und lassen können was sie wollen ohne andere Menschen zu diskriminieren. Mehr Flinta Personen in der Politik, in hohen Positionen von großen Unternehmen und einen respektvollen Umgang mit dem Thema Diversität. Das dies in naher Zukunft noch utopisch ist, muss glaube ich nicht erwähnt werden. Aber eine Auseinandersetzung mit patriarchalischen Strukturen und dessen Auswirkungen muss mehr Anklang finden und schon mit Kleinkindern thematisiert werden. Das Thema Bildung und Diversität ist nämlich leider nochmal ein ganz anderes.

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